Der Kriminalist und Bestsellerautor Hans Girod befasst sich in seinen Publikationen mit spektakulären Gewaltverbrechen, überwiegend mit Blick auf die ehemalige DDR. Björn führte im Vorfeld einer Lesung im Schalksmühler Bauernhaus Wippekühl ein Interview mit dem ehemaligen Dozenten für spezielle Kriminalistik an der Berliner Humboldt-Universität. Die Antworten fielen so ausführlich und detailliert aus, dass der Beitrag für die Veröffentlichung in der Tageszeitung um gut die Hälfte gekürzt werden musste. Da sich Hans Girod jedoch so viel Zeit mit der präzisen Beantwortung der schriftlich gestellten Fragen genommen hat, möchte Björn den vollen Wortlaut des hochinteressante Interviews zumindest den Worteffekte-Fans nicht vorenthalten.
Herr Girod, Sie haben bereits in einer Zeit über Verbrechen in der DDR geschrieben, als das Regime dort noch existierte. War es nicht sehr schwer, in diesem Bereich zu recherchieren, denn von offizieller Seite gab es ja keine schweren Verbrechen in der DDR?
Ihre Wahrnehmung ist nicht ganz richtig. Ich hatte zu DDR-Zeiten als Wissenschaftler und Hochschullehrer zwar Zugang zu den einschlägigen Untersuchungsverfahren, doch erhielten meine Veröffentlichungen grundsätzlich das Prädikat „Nur für den Dienstgebrauch“ oder „Vertrauliche Dienstsache“ und waren lediglich kriminalistisch und forensisch tätigen Fachleuten zugänglich. Für Berichte über gewaltsame Todesfälle und Sexualdelikte gab es in der DDR tatsächlich nur einen sehr kleinen öffentlichen Platz. Die Öffentlichkeit wurde über die Situation der Gewaltkriminalität seitens der DDR-Führung aus politisch-ideologischer Engstirnigkeit weitgehend im Unklaren gelassen, obwohl im Vergleich zur Bundesrepublik die Zahlen erheblich geringer waren. Mit der Implosion des Sozialismus verschwand die aufgezwungene Zurückhaltung bei der Berichterstattung über schwere Kriminalitätserscheinungen in der DDR und das öffentliche Interesse an Informationen über diesen gesellschaftlichen Teilbereich wurde schnell deutlich. Das war der eigentliche Anlass für mich, das alte Schweigen zu brechen und über herausragende nichtnatürliche Todesfälle der Vergangenheit gewissermaßen populärwissenschaftlich zu berichten und dabei deutlich zu machen, vor welchen Herausforderungen die an der Fallaufklärung beteiligten Fachleute standen.
Waren die Motive, ein Gewaltverbrechen zu begehen, aus Ihrer Sicht in der DDR andere als in der BRD oder in Gesamtdeutschland?
Seit Menschengedenken bestehen immer die gleichen Motive und Anlässe für Gewaltstraftaten. Das gilt uneingeschränkt auch für die Situation in der DDR. Wie überall in der Welt sind Habgier, Egoismus, Hass, Rache, Wut, ungezügelter Sexualtrieb, um nur einige zu nennen, die vorherrschenden Kräfte bei der Motivbildung. So auch in der DDR. Sie gipfeln in hoch komplizierten und komplexen psychischen Vorgängen im Menschen, die letztlich im Wechselspiel zwischen Täter und Opfer zu Gewalttaten führen und als extremste Konfliktlösungsprozesse zu verstehen sind. Sie berühren Spezialbereiche der Psychopathologie, Psychiatrie und Soziologie sowie eine Reihe weiterer Fachgebiete. Tatfördernd sind sehr häufig Bedingungen wie etwa soziale Konflikte, Alkohol- und Drogenkonsum, Affektlabilität beim Täter, aber auch das Vortatverhalten des Opfers. Insofern gibt es keine Unterschiede zwischen der DDR und der BRD. Unterschiede bestehen allerdings bei den Erscheinungsformen und Begehungsweisen der Gewaltkriminalität. Sie werden durch das jeweilige Gesellschaftssystem, das geltende Recht, territoriale Besonderheiten und andre kriminologisch wichtige Faktoren beeinflusst.
Können Sie mit ihren detaillierten kriminalistischen Kenntnissen überhaupt noch mit Freude einen Fernseh-Krimi anschauen oder verhagelt Ihnen das Wissen darum, was alles falsch dargestellt wird, den Krimi-Genuss? Gibt es einen Fernseh-Krimi oder eine Serie, die Ihrer Ansicht nach trotzdem noch nahe an der Realität ist?
Gegen Dokus mit nachgestellten Szenen habe ich keine Einwände. Ich habe auch keine Probleme mit dem Sujet des klassischen Kriminalfilms, erwarte dabei lediglich eine innere Logik der Geschichte, auf die ich mich auch einlassen kann. So kann ich Krimis konsumieren wie jeder andere auch. Sie sind die Märchen für den Erwachsenen, vermitteln Spannung, Schauder, Mitleid mit dem Opfer, Akteure, mit denen man sich identifizieren kann, Überführung des Täters und ein Ende, das zufrieden stimmt, zumindest zum Nachdenken anregt. Mein Zuschauerinteresse ist nicht auf gekünstelte Praxisnähe oder wilde Action ausgerichtet, vielmehr aber auf Dramaturgie und psychologische Durchdringung der Fabel. Urteilsmaßstab ist und bleibt insofern Dürrenmatts „Es geschah am helllichten Tag“. Es gibt nur sehr wenige Krimis, die wenigstens kriminalistische Praxisnähe taktvoll andeuten. Das kann ich akzeptieren, erwarten tue ich sie nicht, wenn alles andere stimmt. Meine Ausschaltquote steigt hingegen abrupt, wenn vermeintlich echte kriminalistische Wirklichkeit suggeriert wird, was überdies durchweg dilettantisch und eklatant fehlerhaft erfolgt.
Sie schreiben ja keine Krimis im eigentlichen Sinn, sondern schildern und analysieren Fälle mit realem Hintergrund. Ich kann mir vorstellen, dass es für einen Autor, der sich auf das True-Crime-Genre spezialisiert hat, eine Gratwanderung ist, auf der einen Seite den Unterhaltungsaspekt der Leser zu berücksichtigen (die solche Bücher sicher nicht nur aus rein sachlichem Interesse lesen, sondern auch, um sich einen gewissen Kick oder Grusel zu verschaffen), andererseits aber auch die Belange der Angehörigen und Betroffenen zu respektieren, für die es nicht einfach ist, über die Fälle zu lesen.
Es ist richtig, dass bei der Beschreibung realer Gewaltstraftaten identifikatorisch bedeutsame Details und die Intimsphäre der Täter, Opfer und Zeugen zu schützen sind. Gleiches gilt für die örtliche Zuordnung der Geschehnisse. Daraus ergibt sich das Erfordernis einer präzisen Anonymisierung. Deshalb sind die Namen der Beteiligten, und wo es geraten erscheint, bestimmte Handlungsorte, verändert sowie Handlungsabläufe gestrafft worden. Hinzu kommt, dass die im Mittelpunkt stehenden Sachverhalte bereits mehrere Jahrzehnte zurückliegen. Die Rekonstruktion der für eine plastische Darstellung erforderlichen Dialoge erfolgt auf Grundlage eines umfangreichen Vernehmungsmaterials. Bei einigen Fällen bin ich auf Grund fachspezifischer Fragestellungen in die Untersuchungen direkt einbezogen worden, so dass mir zudem meine persönlichen Aufzeichnungen und Gesprächsergebnisse mit Ermittlern der Kripo zur Verfügung stehen. Unter diesen Voraussetzungen und jeweils wechselnden Aspekten wurden die Fälle bei Wahrung ihrer Authentizität aufbereitet, erzählerisch entsprechend „dramaturgisch verhäkelt“ und mit gesellschaftlichen und zeitpolitischen Zustandsbeschreibungen oder fachlichen Erläuterungen angereichert.
Glauben Sie angesichts der Kriminalfälle, die Sie recherchiert haben, grundsätzlich noch an das Gute im Menschen, oder denken Sie, dass eigentlich jeder zum Gewaltverbrecher oder Mörder werden kann, wenn nur die Situation oder Gelegenheit „stimmt“?
Gewalttäter sind in den meisten Fällen das Produkt der morbiden Lebensverhältnisse, in denen sie heranreiften. Schwierige Kindheit, schulisches Leistungsversagen, defizitäre Sozialentwicklung, niedriges Kulturniveau oder fehlende Bindungsfähigkeit sind einige der typischen Wirkungsfaktoren für die Täterentwicklung. Solche Persönlichkeiten verfügen in akuten Ausnahmesituationen kaum über sozial angemessene Strategien der Konfliktbewältigung. Das trifft zum Beispiel auf Dreiviertel aller Tötungsdelikte zu und betrifft vor allem den sozialen Nahbereich des Täters. Der eine trennt sich vom überdrüssigen Partner und reicht die Scheidung ein, der andere greift zur Axt. Dennoch sind sie Menschen wie du und ich, mit guten wie schlechten Seiten. Beide Seiten sind jedoch eine dialektische Einheit wie plus und minus. Das eine kann ohne das andere nicht bestehen. Insofern kann ich an das ausschließlich abstrakt Gute im Menschen nicht glauben. Solange Bewältigungsstrategien im persönlichen Konfliktfall gut funktionieren, muss man nicht befürchten, selbst zum Gewalttäter zu werden. Jedoch kann jeder Mensch in Extremsituationen geraten, zum Beispiel bei akuten Notwehrlagen oder psychopathologischen Zuständen, in denen bisher angemessenes Konfliktlösungsverhalten außer Kraft gesetzt wird. Dann wird er zum Täter. Es geht dabei letztlich immer um die Frage, ob in komplizierten Situationen die Fähigkeit und Möglichkeit besteht, eine freie Entscheidung zu treffen. Die paradoxe Situation des Soldaten, der rigider Befehlsgewalt unterliegt und für vorsätzliche Tötungshandlungen sogar Orden erhält, bringt das Dilemma beispielhaft auf den Punkt.
Der Autor Ferdinand von Schirach, der sich ebenfalls mit tatsächlichen Verbrechen schriftstellerisch auseinandersetzt, geht sogar so weit, dass er Sympathien für einige Gewaltverbrecher beim Leser aufkommen lässt. Gab es Fälle, in denen auch Sie, zumindest in Teilen, Sympathie für den/die Täter hegten?
Es beeindruckt mich wenig, wenn Täter mit taktischem Geschick ihrem Verteidiger ganz eigennützig und effektvoll die Sonnenseite ihrer Persönlichkeit zeigen. Da ich das nicht ausschließen kann, tue ich mich etwas schwer mit Ihrer Frage. Wenn Sie den Begriff Sympathie aber durch den Begriff Mitgefühl ersetzen, kann ich Ihnen zustimmen. Bei näherer Prüfung stellt sich in vielen Fällen nämlich heraus, dass das Mitgefühl keineswegs die akute, häufig erschreckend gewalttätige Tathandlung, sondern vor allem die durchaus verstehbare kriminogene Entwicklung im Vorfeld der Tat erfasst, der der potentielle, oft psychisch labile Täter ausgeliefert ist. Gleichzeitig spielt das mögliche tatbegünstigende Verhalten des Opfers eine wichtige Rolle, das wiederum auf das Verhalten des Täters, zum Beispiel bei der Aufschaukelung einer Affektaggression wirkt. Mir sind etliche derartige Fälle bekannt. Sie würden aus täterpsychologischer Sicht eigentlich bereits mit der Urteilsverkündung eine günstige Sozialprognose erlauben. Mitunter wird das Mitgefühl in solchen Fällen die akademische Frage nach dem erzieherischen Sinn langer Strafhaft berühren, die bekanntlich einen labilen Gefangenen erst richtig verderben kann.
Glauben Sie, dass auch in Ihnen eine dunkle Seite schlummert und Sie selbst in die Situation kommen könnten, ein Gewaltverbrechen zu begehen?
Vermutlich zielt Ihre Frage darauf ab, ob nicht in jedem von uns eine dunkle Seite schlummert, einen Menschen töten zu können. Das ist richtig und gilt grundsätzlich für jeden von uns, dies aber nur mit der essenziellen Einschränkung, dass dafür ganz besondere Bedingungen vorherrschen müssen. Eine vorsätzliche Tötung ist das strafrechtlich relevante Ergebnis einer Reaktion auf einen individuellen realen oder vermeintlichen zwischenmenschlichen Konflikt. Es kommt dabei nicht allein auf dessen Art und Stärke an, sondern vor allem auf den aktuellen inneren Zustand des Handelnden, der eine gewaltsame Lösung anstrebt. Bei allen Erwägungen über das mögliche eigene Verhalten in schweren Konfliktsituationen geht man gewöhnlich immer von der Möglichkeit und Fähigkeit einer freien Entscheidung für eine nicht kriminelle Lösung aus. Rechtliche Folgenkalkulation und die Beachtung moralisch-ethischer Grundsätze sind dabei bestimmende Elemente. Extreme psychische, gar psychopathologisch relevante Vorgänge bleiben dabei allerdings außer Acht, weil sie unbekannt sind, aktuell keine Bedeutung besitzen und kaum zu prognostizieren sind. Sie aber bilden die so genannte dunkle Seite im Menschen, die im Normalfall zeitlebens verschlossen bleibt.
Sicher kann Sie nach langen Jahren, in denen Sie sich mit Kriminalfällen beschäftigen, so leicht nichts mehr schocken. Gibt es dennoch einen Fall, der Sie auf ganz besondere Weise bewegt oder schockiert hat?
Am meisten belasten unaufgeklärte Gewaltdelikte, weil sie sich mitunter über lange Jahre ins Gedächtnis der Ermittler einbrennen. Ansonsten erschüttert jeder Mord, jeder Totschlag, jedes Sexualdelikt und bewegt von neuem, auch wenn man beruflich mit solchen Ereignissen regelmäßig konfrontiert wird. Man muss rechtzeitig lernen, die eigenen Empfindungen im Zaum zu halten, insbesondere wenn die Angriffe Kindern gelten. Alle an der Untersuchung Beteiligten haben zum Zwecke der Wahrheitsfindung eine sehr wichtige rechtsstaatliche Aufgabe zu erfüllen, der sie nur mit Sachkenntnis und einer stabilen Psyche gerecht werden können. Gerade mit der Aufklärung von kriminellen Todesfällen wird den Opfern ein letzter wichtiger Dienst erwiesen, der nicht nur auf die Hinterbliebenen, sondern auch auf die Öffentlichkeit positiv wirkt. Das motiviert.
Herr Girod, ich danke Ihnen für das Gespräch.