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Dokumentation des Unfassbaren

Zahlreiche Filme thematisierten in den vergangenen Jahrzehnten den Holocaust, doch Alain Resnais‘ „Nacht und Nebel“ gilt bis heute als eines der wichtigsten filmischen Werke über die Konzentrationslager. (DVD-Screenshot)

Sie waren stets dabei: Kameramänner in Uniform, die im Frühjahr 1945 das Fortschreiten der alliierten Streitkräfte dokumentierten. Im Laufe dieses Krieges hatten sie schon viel Grausames gesehen und gefilmt, dennoch traf sie die erste Begegnung mit einem Konzentrationslager völlig unerwartet. Zehntausende von toten Menschen, hunderte von Menschen mehr tot als lebendig, überall der Gestank des Todes. Konfrontiert mit diesen unerträglichen Bildern stellten sie sich die Frage: Wie sollen wir damit umgehen? Es entsprach nicht den Gepflogenheiten der Kameraleute, Verwundete oder entstellte Leichen zu filmen. Der menschliche Anstand gebietet es, einen Sterbenden nicht in Großaufnahme zu zeigen. Es sollte aber anders kommen: Die britischen, amerikanischen und russischen Kameraleute dokumentierten das Unfassbare in all seinen Facetten.

Das Unfassbare sollte in Bildern festgehalten und für nachfolgende Generationen dokumentiert werden. Bilder von Knochenbergen, aus denen Dünger und Seife, schier endlose Ballen von Frauenhaaren, aus denen Stoffe hergestellt werden sollen. Bilder von hunderten nackten, toten Babys, Kindern, Männern und Frauen, die wie Puppen in Gruben so groß wie Tennisplätze geworfen oder mit Bulldozern geschoben werden, weil eine würdige Beerdigung angesichts der unfassbaren Anzahl an Toten unmöglich ist. Amerikaner und Briten fassten sehr schnell den Entschluss, aus dem Material ihrer Kameraleute einen Dokumentarfilm zu schneiden.

Alfred Hitchcock und Billy Wilder wurden beteiligt

Betraut mit diesem Projekt wurden unter anderem die Regisseure Alfred Hitchcock und Billy Wilder sowie der Filmproduzent Sidney Bernstein. Bernstein war ebenso wie Wilder der Ansicht, dass alles gefilmt werden müsse, um diese Gräueltaten später beweisen zu können. Sie befürchteten, dass ohne dieses Filmmaterial viele später die Existenz von Konzentrationslagern leugnen würden. In einem Gespräch mit dem deutschen Regisseur Volker Schlöndorff sagte Wilder später einmal: „Die Leute werden behaupten, das hätten wir in Hollywood mit Special Effects nachgestellt.“ Deshalb zwang man auch die deutsche Bevölkerung, sich die Lager anzuschauen. Wie zuvor die Kameraleute traf diese Begegnung die Kinder, Frauen und Männer völlig unvorbereitet. Für viele war das, was sie sehen mussten, nicht zu ertragen. Sie brachen traumatisiert zusammen. Die Kameras der Alliierten hielten auch das fest. Angesichts der geschockten und traumatisierten Bevölkerung wurde diese unvorbereitete Konfrontation nicht wiederholt, stattdessen wollten die Briten und Amerikaner ihren Dokumentarfilm „German Concentration Camps Factual Survey“ für die Konfrontation nutzen. Doch die Briten, die den Filmschnitt verantworteten, kamen nach Einschätzung der Amerikaner nicht schnell genug voran, so dass diese Ende Juni 1945 aus dem gemeinsamen Projekt ausstiegen.


Briten und Amerikaner verfolgten bei dem Dokumentarfilm zwei unterschiedliche Ansätze, die unvereinbar waren. Für die Briten stand der künstlerische Anspruch im Vordergrund. Sie wollten einen Film schaffen, der erzählt, was passiert ist. Hingegen wollten die Amerikaner die deutsche Bevölkerung konfrontieren, anklagen, einschüchtern und auf diese Weise erziehen. Nach Ansicht der Briten waren die Deutschen bereits massiv mit dem Holocaust konfrontiert worden. Zudem war es wichtiger, die Deutschen als Verbündete im aufkommenden Kalten Krieg zu gewinnen, so dass die Briten das Filmprojekt im September 1945 gänzlich fallen ließen und die Negative in den Archiven verschwanden.

Bilder, die fassungslos machen und einen sprachlos zurücklassen

Die verärgerten Amerikaner schnitten das Material zu eigenen kurzen Dokumentarfilmen zusammen, der bekannteste dürfte „Death Mills“ (Die Todesmühlen) sein, an dem Billy Wilder mitarbeitete. Um die Wirkung des circa 20-minütigen Films zu testen, wurde in der Nähe von Würzburg eine Vorführung vor rund 500 Zuschauern organisiert. Als das Licht anging, war der Saal fast leer. Weitere Vorführungen verliefen ähnlich, so dass auch diese Erziehungsmaßnahme bald fallen gelassen wurde. Der Film mit seinen unfassbaren Bildern, unterlegt mit einer dramatischen Musik, hatte die Zuschauer nicht erzogen, er hatte sie geschockt. So sehr, dass sie die Kinosäle vorzeitig verließen – verlassen mussten. „Death Mills“ hatte den Holocaust dramatisiert. Etwas, was unmöglich ist. Zu grauenvoll sind die Bilder. Bilder, die nicht zu fassen sind. Bilder, die fassungslos machen und einen sprachlos zurücklassen.

„Nacht und Nebel“ von Alain Resnais

Einen anderen Ansatz verfolgte zehn Jahre später der renommierte französische Filmemacher Alain Resnais mit seinem Film „Nuit et Brouillard“ (Nacht und Nebel), der im Dezember 1956 in die deutschen Kinos kam. Resnais war wie den Briten zehn Jahre zuvor der künstlerische Realismus wichtig. Er griff auf das Material der Kameramänner ohne Fanatismus und Hass zurück, um es zu einer Mahnung an die Gewissen der Menschen zusammenzustellen. Das Drehbuch schrieb der katholische Schriftsteller Jean Cayrol, der im Krieg als Widerstandskämpfer verhaftet und nach Mauthausen deportiert wurde und dort die Befreiung durch die Amerikaner erlebte. Der behutsame, reflektierende Text von Cayrol schafft ebenso wie die einfühlsame Filmmusik von Hanns Eisler, die umso angenehmer wird, je entsetzlicher die Originalaufnahmen werden, einen Abstand zum Gesehenen. Einen Abstand, der ein Nachdenken über die Ereignisse in den Konzentrationslagern erst möglich macht, der uns die Leiden der Opfer ahnen lässt. Resnais: „Ich will die Zuschauer ja nicht erschlagen, ich will sie verstören, sie wachrütteln, neugierig machen, sie etwas entdecken lassen. Und das hatten die Dokumentarfilme über die Lager gleich nach dem Krieg nicht erreicht.“ Zahlreiche Filme thematisierten in den vergangenen Jahrzehnten den Holocaust, doch Resnais‘ Film gilt bis heute als eines der wichtigsten filmischen Werke über die Konzentrationslager. Für Francois Truffaut war er sogar der größte Film aller Zeiten.

 

Hintergrundinformationen

Obwohl die amerikanischen Kameramänner ab Januar 1945 neben dem bis dahin eingesetzten 35mm Schwarzweiß-Material auch 16mm Farbfilm einsetzten, fand dieses in dem Dokumentarfilm „German Concentration Camps Factual Survey“ keine Verwendung. Im Jahr 2014 wurde der Film vom Londoner Imperial War Museum fertig gestellt und die ursprünglich geplante Version in ausgewählten Kinos gezeigt, unter anderem im Forum der Berlinale 2014. Im März 2015 berichtete die englische Zeitung „The Telegraph“, dass der Film noch in diesem Jahr einem breiten Publikum zugänglich gemacht werden soll, entweder als Kinoauswertung oder DVD. Ausschnitte aus dem Film sind in der Dokumentation „Night Will Fall“ zu sehen, die unter anderem auf ARTE ausgestrahlt wurde. Die Dokumentation ist auf YouTube abrufbar.

Der Film „Death Mills“ wurde zusammen mit zwei weiteren Filmen, die auf dem Material der Alliierten basierten, in den USA auf DVD veröffentlicht. Bei den weiteren Filmen handelt es sich zum einen um einen kurzen Beitrag für US-Kinos und zum anderen um die circa einstündige Zusammenfassung „Nazi Concentration Camps“, die bei den Nürnberger Prozessen als Beweismaterial diente. „Death Mills“ und „Nazi Concentration Camps“ sind auch auf YouTube abrufbar.

Resnais‘ „Nacht und Nebel“ ist unter anderem in den USA in der Criterion Collection erschienen. Für diese wurden Bild und Ton aufwändig restauriert, zudem enthält die DVD zahlreiche Special Features, unter anderem die isolierte Filmmusik und ein Interview mit Alain Resnais von 1994. Die deutsche Fassung des Films, die überaus sensibel von dem Lyriker Paul Celan gemacht wurde, ist bei der Bundeszentrale für politische Bildung erhältlich. Neben dem Film bietet die DVD den Kommentar aus Nacht und Nebel einzeln als Audiodatei, eine Bildergalerie mit Standfotos aus dem Film, ein Radioporträt über Alain Resnais aus dem Jahr 1966 sowie zwei Informationsblätter für den Unterricht.

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In einer Ramsch-Kiste mit Taschenbüchern wurde ich, gerade mal 10 Jahre alt, fündig. Das – wie ich im Nachhinein feststellte – inkompetenteste Film-Nachschlagewerk dieser Erde, „Das Lexikon des Science-Fiction-Films“ von Roland M. Hahn, weckte mein Interesse für bewegte Bilder. Ich „zerlas“ es völlig (und auch seine nicht weniger missratenen Nachfolger über die Genres „Fantasy“ und „Horror“). Echtes Interesse für die Pop- und Rockmusik kam dagegen erst Jahre später – mit der ersten eigenen kleinen Hifi-Anlage und der CD „The Road to Hell“ von Chris Rea.

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