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Kleine graue Wolke – Ein sehr persönlicher, intensiver Film über Multiple Sklerose

Regisseurin Sabine Marina stellt ihre eigene Person und Erkrankung als verbindendes Element in den Fokus ihres Films. (Foto: W-film / Frog Motion)

Wie stellst du etwas filmisch dar, das du nicht siehst. Etwas, das nicht greif- und für viele nicht begreifbar ist. Eine Erkrankung wie Multiple Sklerose, kurz MS genannt, die eine der häufigsten neurologischen Krankheiten bei jungen Erwachsenen ist und aufgrund ihrer sehr unterschiedlichen Verläufe auch als die Krankheit mit den „1000 Gesichtern“ bezeichnet wird.

2011, am Ende eines Urlaubs in Kroatien, traten bei der Filmemacherin Sabine Marina die ersten Symptome von MS auf. Der Arzt, der ihr die Diagnose mitteilte, sprach von einer kleinen grauen Wolke, die an ihrem blauen Himmel aufgetaucht sei. Marina selbst kam es zunächst wie ein großes schwarzes Gewitter vor, das sie erst einmal vorbeiziehen lassen musste, um wieder einen klaren Blick auf ihr Leben zu bekommen. Diesen Blick aufs Leben hat sie in ihrem sehr persönlichen Dokumentarfilm „Kleine graue Wolke“ festgehalten.

Vom klassischen Korsett eines Dokumentarfilms befreit

In Deutschland sind laut offiziellen Angaben rund 240.000 Menschen an MS erkrankt. „Die Zahl ist vermutlich deutlich höher“, sagt Marina, „weil jeder kennt mindestens einen betroffenen Menschen im direkten oder weiteren Umfeld.“ So verwundert es nicht, dass ihr Film große Aufmerksamkeit erzielte, als er im Vorjahr in die Kinos kam. Ein Film, der insbesondere durch seine sehr persönliche Nähe und die damit einhergehende unkonventionelle Erzählweise beeindruckt. Durch diese Nähe gelingt es Marina, die scheinbar nicht zu fassende Krankheit für Zuschauer begreifbar zu machen. Zum einen lässt sie uns Zuschauer an ihrem Alltag und dem von anderen Betroffenen teilhaben. Zum anderen schafft sie es, indem sie sich vom klassischen Korsett eines Dokumentarfilms befreit, ihre Gedanken und Gefühle mit uns zu teilen. „Ich habe gespürt, als ich mir andere Beiträge über MS angeschaut habe, dass man diese Krankheit nicht objektiv abbilden kann“, sagt Marina, „diese Filme hatten alle einen ähnlichen Aufbau: Jemand guckt von außen auf eine Reihe von Schicksalen, die aber kein verbindendes Element außer der Diagnose MS haben. Uns Betroffene verbindet aber viel mehr als diese zwei Buchstaben.“ So stellt sie ihre eigene Person und Erkrankung als verbindendes Element in den Fokus. Filmisch nutzt sie unter anderem das Mittel des Off-Kommentars, um ihren Weg von der Diagnose zurück in ihr neues Leben zu beschreiben. „Dank der Diagnose habe ich mein Leben noch mal neu gedacht.“

(Foto: W-film / Frog Motion)

Die inszenierten Szenen sind von eindrücklicher Intensität, die bereits während des Guckens die Chance eröffnen, über das Gesehene nachzudenken. (Foto: W-film / Frog Motion)

Der Beginn des Films scheint dabei symbolisch für ihren persönlichen Weg zu stehen. „Sobald wir denken können, malen wir uns unsere Wege aus“, hören wir Marina sagen, während die Leinwand schwarz bleibt. Doch nach dem Satz „Doch was ist wenn wir sie verlassen müssen, weil sich unsere Welt verdunkelt?“ weicht das schwarz einer warmen, von Sonnenlicht durchfluteten Sommerszenerie. Die Krankheit anzunehmen, um das Leben wieder genießen zu können, neu leben zu können – dieser Weg wird hier angelegt. „Kleine graue Wolke“ ist kein klassischer Dokumentarfilm. Dokumentarische Szenen wechseln sich mit inszenierten ab. Inszenierten Szenen von eindrücklicher Intensität, die bereits während des Guckens die Chance eröffnen, über das Gesehene nachzudenken. Sie eröffnen aber vor allem die Chance mitzufühlen.


Allerdings fügen sich diese Szenen nicht harmonisch in den Filmfluss ein. Etwas ungelenk sind diese Szenen im Film platziert, elegantere Übergänge hätten das Konzept noch stimmiger erscheinen lassen. Hier wird deutlich, dass es sich bei dem Film um Marinas Abschlussfilm an der Hochschule Ostwestfalen-Lippe handelt. „Ich stehe voll hinter dem Film, aber dennoch würde ich rückblickend, die Produktion begann ja bereits 2012, heute einiges nicht mehr so machen“, sagt Marina, „damals war es allerdings richtig und letztlich authentisch. Der Film ist ehrlich und das merken die Zuschauer.“

Fazit

Bei autobiografischen Filmen tritt der Film als Werk immer ein wenig in den Hintergrund. Doch nur weil Sabine Marina so viel von sich einbringt, ihre Gefühle und Gedanken offenbart, funktioniert er. Gibt der Film den nicht minder sehr persönlichen Einblicken in das Leben der porträtierten Betroffenen einen Halt. Ein verbindendes Element. Für viele ist es oftmals schwer nachzuvollziehen, die weder selbst behindert sind noch in ihrem Umfeld mit behinderten Menschen zu tun haben, dass ein Rollstuhl oder eine Diagnose wie MS nicht einem Todesurteil gleich kommen muss. Nach diesem Film verstehen auch solche Menschen, warum Marina heute sagt: „Die MS hat mir etwas gegeben, in mir hervorgeholt wofür ich ihr sehr dankbar bin: Ich habe gelernt zu leben.“

Cover Kleine graue Wolke

Bewertung 4 von 5 Punkten

Kleine graue Wolke
Deutschland 2014

Dt. Heimkinostart 22. Januar 2016
Länge 85 Minuten

Regie und Buch Sabine Marina
Kamera Jonas Hieronimus
Schnitt Stjepan Marina
Ton Claudia Mattai del Moro

Ihr möchtet noch mehr erfahren? Lest auch das ausführliche Interview mit Regisseurin Sabine Marina, das ich mit ihr in ihrer Wahlheimat Hamburg geführt habe.

Kategorie: Angeguckt, Film & TV

von

In einer Ramsch-Kiste mit Taschenbüchern wurde ich, gerade mal 10 Jahre alt, fündig. Das – wie ich im Nachhinein feststellte – inkompetenteste Film-Nachschlagewerk dieser Erde, „Das Lexikon des Science-Fiction-Films“ von Roland M. Hahn, weckte mein Interesse für bewegte Bilder. Ich „zerlas“ es völlig (und auch seine nicht weniger missratenen Nachfolger über die Genres „Fantasy“ und „Horror“). Echtes Interesse für die Pop- und Rockmusik kam dagegen erst Jahre später – mit der ersten eigenen kleinen Hifi-Anlage und der CD „The Road to Hell“ von Chris Rea.

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